Blogbeitrag – Erinnerungskultur
Als Georg Haberstroh an Silvester 1950 plötzlich vor seiner Frau und seinem Sohn stand, war es fast ein Wunder. Schließlich war er bereits 1943 für tot erklärt worden. Doch er überlebte und hat seine Erlebnisse aufgeschrieben. Jetzt hat sein Sohn Armin die Lebenserinnerungen des Vaters aus Krieg und Gefangenschaft als Buch veröffentlicht. Es ist ein wichtiges Zeitzeugendokument, das wir hier gern näher vorstellen.
Georg Haberstroh: ein Zeitzeuge
Juni 2021. Erst im Dezember 1949 erhielt die kleine Familie die Nachricht, dass der Ehemann und Vater noch lebte. Allerdings hatte seine Frau nie an den Tod ihres Gatten geglaubt. Sie spürte, dass er noch lebte. So verweigerte sie die Annahme einer Hinterbliebenenrente und schlug sich und ihren kleinen Sohn mehr schlecht als recht mit der mageren Sozialhilfe und der Unterstützung mitfühlender Nachbarn durch. Und sie behielt recht: Georg Haberstroh überlebte seine Kriegseinsätze und eine jahrelange, wahrlich qualvolle Gefangenschaft in Russland wie durch ein Wunder. Wieder zu Hause schrieb er seine Erinnerungen auf. Es wurden 120 Schreibmaschinenseiten, die sein Sohn nun in Buchform herausbrachte.
Der Autor im Krieg
Georg Haberstrohs Berichte um Krieg und Gefangenschaft umfassen die Jahre 1939 bis 1950. Zu Kriegsbeginn war der 1906 in Ratibor in Schlesien geborene Georg Studienassessor an der Aufbauschule in Bad Ziegenhals in Schlesien tätig. Er unterrichtete vor allem Mathematik und Physik, gab aber auch Sportstunden.
Am 26. August 1938 erfolgte die Einberufung und der frischgebackene Soldat wurde zunächst zum Einmarsch nach Polen abkommandiert. Gleich darauf folgte der Sitzkrieg im Rheinland, der diesen Namen bekam, weil beide Seiten sich überwiegend um die Aufklärung der Lage kümmerten. Dann kam es zum Einmarsch nach Belgien und Georg Haberstroh war ebenfalls dabei. Schließlich fand er sich im Frankreichfeldzug wieder und zog mit den übrigen deutschen Soldaten in Paris ein. Zwischen Oktober 1940 und Mai 1942 diente er in Deutschland.
In Russland: der Beginn leidvoller Jahre
Dann begann der Russlandfeldzug. Georg Haberstroh geriet in den Kessel von Stalingrad, in dem die sechste Armee mit schätzungsweise 330.000 Soldaten quasi aufgerieben wurde. Es fehlte an militärischer Unterstützung und an Nachschub. Am 31. Januar 1943 kam Georg Haberstroh in russische Gefangenschaft und erlebte in den nächsten Jahren Krankheiten und Elend, dazu Zwangsarbeit im Steinbruch (nach seiner eigenen Aussage wohl die schlimmste Zeit). Er war in sieben verschiedenen Lagern untergebracht und musste hautnah erleben, wie die Kameraden rund um ihn starben. Es kamen in Stalingrad etwa 110.000 Mann in Kriegsgefangenschaft, nur 6.000 von ihnen sollten die Heimat wiedersehen, darunter Georg Haberstroh.
Familie und weiterer Weg
Seine Frau hatte ebenfalls schwere Zeiten zu überstehen. Schließlich war ihr Sohn Armin erst zwei Jahre alt, als sie 1943 aus Schlesien ins oberbayerische Ruhpolding flüchten mussten. Sein Sohn Armin gibt heute zu, zunächst direkt eifersüchtig auf den Vater gewesen zu sein, als dieser endlich vor der Tür stand. Da der Vater sich aber intensiv um seinen Jungen bemühte, wuchs die Familie zusammen. 1951 ging die Lebensreise an den Niederrhein. Georg Haberstroh wurde in Waldniel, einer Gemeinde nahe der holländischen Grenze, Lehrer an einem Gymnasium, das er später leitete. Er starb 1988 in Umkirch.
Wie es zur Veröffentlichung kam
Armin Haberstroh, seines Zeichens ebenfalls pensionierter Gymnasiallehrer und Geograf, wohnhaft in Neuershausen, kümmerte sich intensiv um den Nachlass seines Vaters. Unter anderem hält er nun eine selbst gebastelte Zahnbürste in Ehren, die neben der Kleidung das einzige Utensil war, das sein Vater als Gefangener sein Eigen nennen konnte. Außerdem gab er die 120 Schreibmaschinenseiten Freunden und Vertrauten zu lesen und beriet sich mit Historikern. Da es so gut wie keine Aufzeichnungen von Zeitzeugen zu diesem Thema gibt – die meisten Rückkehrer schwiegen sich über diese schwere Zeit eisern aus –, wurde ihm von allen Seiten geraten, die Blätter zu veröffentlichen und sie so als wichtiges Zeugnis der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Versöhnliche und mahnende Schlussworte
Georg Haberstroh war in der Lage, seine schwere Lage auch als Herausforderung zu sehen und ihr sogar etwas Positives abzugewinnen. So schreibt er in seinem Bericht: „Ich bin sogar dankbar für die Gefangenschaft, in der ich eine Prüfung erblicke und die mir viel gegeben hat, die mich das Einordnen in die Gemeinschaft und das Verständnis für die Nöte, Kümmernisse und Sorgen des Mitmenschen gelehrt hat. Und ihm zu helfen, wenn er in Not und Bedrängnis geraten ist.“ Er schließt mit den Worten: „So hat eine lange Leidenszeit ein Ende gefunden, eine Zeit, an die man nur sehr ungern denkt und die damit begann, dass ein geltungsbedürftiger, wahnsinniger Mensch glaubte, die ganze Welt verändern und besitzen zu wollen, eine Zeit, die bei Millionen von Menschen und Völkern Wunden gerissen hat, die heute immer noch zu spüren sind.“
Geradezu distanziert und mit wenigen Emotionen berichtet Georg Haberstroh auf diesen Schreibmaschinenseiten von den unmenschlichen Strapazen, die Krieg und Gefangenschaft mit sich brachten. Umso eindringlicher lesen sich die 277 Seiten dieses Antikrieg-Buches und unschätzbaren Zeitzeugnisses.