Zwischen Licht und Schatten
Warum Circle von Anne Wyld mehr als nur ein Gedichtband ist
Wie fühlt es sich an, wenn man gleichzeitig fliegen und fallen will? Wenn Liebe und Selbstverlust Hand in Hand gehen? Wenn man nach Halt sucht – und sich selbst begegnet? Mit Circle hat die junge Autorin Anne Wyld ein zutiefst persönliches, rohes und intensives Werk geschaffen, das weit über die Form klassischer Lyrik hinausgeht. Es ist ein literarischer Seelenstriptease, ein Kreislauf der Gefühle, ein Sprachrohr für das Unsagbare. Wer dieses Buch liest, begibt sich auf eine emotionale Achterbahnfahrt – zwischen Nähe und Distanz, Hoffnung und Enttäuschung, Stärke und Zerbrechlichkeit.
Die Sprache des Innersten: Poesie als Selbsttherapie
Die Texte in Circle sind keine weichgespülten Gedichte. Sie sind kompromisslos ehrlich, sprachlich mutig, stellenweise rau. Jedes Wort scheint direkt aus dem Innersten zu kommen, unbearbeitet, ungeschönt – und gerade deshalb so kraftvoll.
Anne Wyld schreibt nicht für ein Publikum, sie schreibt, weil sie nicht anders kann. Ihre Texte sind Ausdruck eines inneren Kampfes, einer intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst und der Liebe zu einem Menschen, der selbst zerrissen ist.
Dabei entsteht eine Lyrik, die gleichermaßen persönlich wie universell ist. Denn wer kennt sie nicht – diese Sehnsucht nach Nähe, das Ringen mit sich selbst, die Angst vor dem Verlassenwerden?
Der Mann ohne Gesicht: Über toxische Beziehungen und die Macht der Projektion
Im Zentrum vieler Texte steht eine Beziehung, die sich irgendwo zwischen Faszination und Selbstaufgabe bewegt. Der „Mann ohne Gesicht“ wird zur Projektionsfläche, zum Spiegel, zum Fluch und zur Offenbarung.
Anne Wyld beschreibt die Dynamik einer Verbindung, in der Liebe und Schmerz untrennbar miteinander verbunden sind. Es geht um emotionale Abhängigkeit, um das Sehnen nach einem Menschen, der nicht greifbar ist – und die Frage: Was bleibt von mir übrig, wenn ich dich liebe?
Diese Beziehung ist keine klassische Liebesgeschichte, sie ist ein Spiel mit Grenzen – zwischen Hingabe und Selbstverlust, zwischen romantischer Hoffnung und schonungsloser Realität.
Zerrissenheit als Lebensgefühl
Ein wiederkehrendes Motiv in Circle ist das Gefühl der Zerrissenheit. Die Autorin beschreibt, wie sie zwischen Extremen pendelt – euphorische Höhen, gefolgt von tiefen Abstürzen.
Diese Kontraste durchziehen das gesamte Werk: Licht und Schatten, Nähe und Flucht, Vertrauen und Zweifel. In Texten wie „Split up“, „Kaputt“ oder „Schattenspiel“ entsteht das Bild einer Persönlichkeit, die nicht stillstehen kann – weil sie sich sonst selbst verliert.
Das Buch wird so zum Spiegel einer Generation, die sich zwischen Selbstoptimierung und Selbstzweifel verliert. Die sich zeigen will – aber Angst vor dem Gesehenwerden hat. Die sich fallen lassen will – aber gelernt hat, hart zu sein.
Selbstfindung im poetischen Kreis
Circle ist mehr als eine Sammlung einzelner Texte – es ist eine Reise. Ein Kreislauf, in dem man sich verliert, um sich irgendwann neu zu finden. Der Titel ist dabei nicht zufällig gewählt: Die Texte folgen keinem linearen Weg, sie drehen sich in Schleifen, führen zurück, werfen neue Fragen auf.
Und doch entsteht über die Seiten hinweg ein stiller Prozess der Selbstfindung. In „Selfie“, „Ich“ oder „Soul“ wird deutlich: Die Erzählerin beginnt, sich selbst zu sehen. Nicht durch die Augen des anderen, sondern durch ihre eigenen. Mit all ihren Narben, Zweifeln, ihrer Stärke.
Diese Entwicklung geschieht nicht durch heilsame Lösungen, sondern durch das Aushalten der eigenen Widersprüche.
Authentizität statt Perfektion
Was Circle so besonders macht, ist seine Echtheit. Anne Wyld schreibt nicht, um zu gefallen. Ihre Texte sind roh, manchmal chaotisch, ungeschliffen. Aber genau das macht sie so berührend.
Hier spricht keine inszenierte Social-Media-Poesie. Hier spricht eine junge Frau, die kämpft – mit dem Leben, der Liebe, sich selbst.
Wer sich auf dieses Buch einlässt, muss bereit sein, sich mit den eigenen inneren Stimmen auseinanderzusetzen. Vielleicht erkennt man sich wieder. Vielleicht wird man unangenehm berührt. Vielleicht aber auch – versöhnt.
Zwischen Aufbruch und Abschied: Ein offenes Ende
Circle endet nicht mit einem Punkt. Es endet mit vielen offenen Fragen. Wie geht es weiter? Gibt es Heilung? Ein Happy End? Die Autorin gibt keine Antwort – und genau darin liegt die Stärke des Buches.
Denn das Leben ist selten klar. Es verläuft in Kreisen. Und manchmal ist die größte Form von Mut nicht, alles zu wissen – sondern weiterzugehen, obwohl man nichts weiß.
Circle ist kein Wohlfühlbuch. Es ist ein literarischer Schmerzraum – und eine Einladung zum Mitfühlen. Wer sich darauf einlässt, wird nicht nur Anne Wyld ein Stück besser verstehen, sondern vielleicht auch sich selbst.
Über die Autorin
Anne Wyld ist Anfang zwanzig, Studentin und schreibt seit frühester Kindheit. Circle ist ihr erstes veröffentlichtes Buch – entstanden in einem Jahr voller Umbrüche, inspiriert durch die Liebe zu einem Mann mit Persönlichkeitsstörung.
Diese Beziehung – intensiv, zerstörerisch, formend – wurde zur Triebfeder eines poetischen Prozesses, der die Autorin nicht nur an ihre Grenzen, sondern auch zu sich selbst führte.
Anne Wyld versteht es, Emotionen in Worte zu fassen, die tief gehen. Ihre Texte sind keine Pose – sie sind ein mutiger Blick in die Seele. Und genau deshalb laden sie Leser\*innen ein, sich selbst zu begegnen – jenseits von Klischees und Konventionen.